8 Kommentare zu “Wortbeflügler: 2. Der Jahreswechsler

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  2. Ja, es vorfreute sich. Kaum begonnen, schon vorbei? Nein, nicht DIESES Jahr. Es streckte sich weiter, dehnte sich, freute sich. Es würde dauern. Lange dauern.

    Er dagegen merkte nichts. Freute sich seines Zettels an der Tür. Freute sich auf das übernächste Jahr, schmiedete Pläne. Freundschaften wollte er aufleben lassen. Endlich das Buch lesen, das, noch immer verschweißt in seiner Plastikhülle, auf dem Nachttisch liegt. Die Einladungen fielen ihm ein. Klassenabschlusstreffen, seit Jahren hat er sie ignoriert. Im nächsten Jahr würde er zusagen, ganz gewiss. Was hat ihn jemals abgehalten? Vielleicht würde er sogar seinen Bruder besuchen. Schon der Gedanke lässt sein Herz schneller schlagen. Er kann es kaum erwarten.

    Er hat sich einen Kalender gekauft. Seit Jahren das erste Mal. Keine Bilder. Keine Sinnsprüche. Überflüssige Gefühlsduseleien. Einzig das Kalendarium zählt. Tag für Tag ein Strich. Vorbei, vorbei, vorbei. Schnell das ganze Jahr abhaken. Aber es ziert sich, vergeht so quälend langsam, jeder neue Tag ein endloses Ticken. Sekunden, Minuten, Stunden.

    Er verpasst das Frühjahr. Keine Amsel zwitschert, keine Blüte öffnet sich für ihn. Kein Sonnenstrahl erwärmt seine Haut. Das Spiel der Schatten an der Wohnzimmerwand, von der noch tiefstehenden Sonne so fragil in Szene gesetzt, erreicht sein Auge nicht.

    Er wartet. Wartet, dass die Zeit vergeht. Aber das Jahr genießt sein Dasein. Es schickt einen heißen Sommer. Ferien. Urlaub. Berge und Meer. Müßiggang. Er schwitzt nicht. Er braucht keinen Urlaub. Er arbeitet und arbeitet. Vielleicht würde das Jahr dann schneller vergehen.

    Die Einladung zum Klassentreffen kommt. Wie immer zum Herbstanfang. Er antwortet nicht. Nächstes Jahr, da wird er gehen, ganz gewiss. Sein Bruder schreibt einen Geburtstagsgruß. Den neuen Bestseller hat er ihm mitgeschickt. Weggelegt. Zu den anderen Büchern. Nächstes Jahr. Ja, nächstes Jahr, da wird er sie lesen. Alles so richtig genießen.

    Doch das Jahr streckt sich weiter. Es schleicht durch seine Wohnung. Zäh wie Honig klebt es an ihm. Er kann es nicht abschütteln. Der Zettel an der Tür vergilbt. Mit Tesafilm schon ein Dutzend Mal erneuert. Die Schrift kaum noch erkennbar.

    Der Winter kommt mit Frost und Schnee. Kunstwerke aus Eis an seinen Fenstern. Er haucht sie fort. Hält Ausschau nach dem nächsten Jahr. Es muss bald kommen. Nur wenige Tage noch. Dann beginnt sein Leben, ganz gewiss.

    Feierlich hakt er den Tag ab, den letzten in diesem Jahr. Es hat ihn nicht bezwungen. Er war stark. Ist sich treu geblieben. Er schreibt einen neuen Zettel. Heftet ihn an die Tür. Gleich beginnt das ersehnte Jahr.

    Und das alte Jahr streckt sich noch einmal. Und vorfreut sich. Denn es würde wiederkommen, beim zwölften Glockenschlag.

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    • Ich staune! Mit einer solchen Interpretation hatte ich nicht gerechnet. Aber genau das ist das Schöne!!!
      Ha, da personifiziert sie einfach das Jahr!!! Jetzt lese ich den letzten Satz des Originals ganz anders.
      Klasse! Ich danke dir!

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